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Richtlinie 2019/882 – was ist das?

  • Der vollständige Name der Direktive lautet „Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen“. Sie wird häufig auch als European Accessibility Act (EAA) bezeichnet.
  • Die Richtlinie ist eine EU-weitere Vereinheitlichung der Vorschriften und Regularien zur Zugänglichkeit von Produkten und Dienstleistungen und zwingt die Anbieter, ihre Dienstleistungen und Produkte unter Berücksichtigung des inklusiven Designs zu entwickeln und anzubieten.
  • Anders als zum Beispiel die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ist sie jedoch eine Richtlinie und keine Verordnung. Zitat Wikipedia:
    Im Gegensatz zu Verordnungen gelten sie [die Richtlinien, Anm. d. Autors] gemäß Art. 288 Absatz 3 des AEUV nicht unmittelbar, sondern müssen erst von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgewandelt werden.
    Das bedeutet: Eine Richtlinie wird nicht automatisch in allen EU-Mitgliedsstaaten Gesetz, sondern verpflichtet diese, den Richtlinien-Inhalt in nationales Recht zu verwandeln. Die dann entstandenen nationalen Gesetze sind die Rechtsordnungen, die letztlich relevant sind. Dennoch gibt die Richtlinie die Richtung vor.
  • In der Bundesrepublik Deutschland wird die Umsetzung der Richtlinie im "Barrierefreiheitsstärkungsgesetz" geschehen.
  • Das bedeutet auch, dass weitere regulatorische Details und Handlungsempfehlungen für die Privatwirtschaft entstehen werden, sobald die nationalen Rechtsordnungen in Kraft sind.
  • Nichtsdestotrotz ist genau jetzt ein guter Zeitpunkt, um über Zugänglichkeit und Barrierefreiheit der eigenen Dienstleistungen und Produkte nachzudenken, sofern das noch nicht geschen ist.
  • Kritiker*innen beklagen, dass sich der European Accessibility Act zu sehr auf die digitale Welt konzentriert – und er nicht der große Wurf ist, der er hätte sein könnte. Dennoch ist die Richtlinie, nicht zuletzt wegen ihrer Auswirkungen auf die Europäische Union als Ganzes, ein großer Schritt nach vorn.

Umfang

Richtlinie 2019/882 verpflichtet Hersteller und Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Berücksichtigung der Barrierefreiheit, sofern sie in folgenden Kategorien fallen:

  • E-Commerce-Dienstleistungen und zugehörige Plattformen
  • Computer und Betriebssysteme, Smartphones und Geräte, die vorwiegend zur elektronischen Kommunikation verwendet werden
  • Bankdienstleistungen, Service-Terminals und Geldautomaten
  • Notfall-Rufnummern
  • Der Zugang zu audiovisuellen Medienaber nicht die audiovisuellen Medien selbst - dies ist Gegenstand einer eigenen EU-Richtlinie (EU-Richtlinie 2018/1808).
  • Dienstleistungen und Produkte des Verkehrssektors im Zusammenhang mit der Personenbeförderung in Luft, Bus, Bahn und auf dem Wasser
  • E-Books

Ausnahmen

Die Richtlinie 2019/882 kennt das Konzept der "unzumutbaren Belastung" (Artikel 14, 1b), was bedeutet, dass die Zugänglichkeitsregeln der Richtlinie gelten,

  • …es sei denn, sie würden das Wesen des Produkts bzw. der Dienstleistung selbst verändern.
  • …es sei denn, die Anforderungen an die Zugänglichkeit würden das Unternehmen finanziell überfordern.

Den Unternehmen ("Wirtschaftsakteuren" in der Sprache der Direktive) ist es auferlegt, eine diesbezügliche Selbstbeurteilung vorzunehmen. Diese Beurteilung muss dokumentiert und für mindestens fünf Jahre (ab Zeitpunkt der Bereitstellung des Produktes oder der Dienstleistung) aufbewahrt werden. Fordern Marktüberwachungsbehörden (also jene Einrichtungen, die vom Mitgliedsstaat als Überwachungsstelle benannt werden) das Unternehmen dazu auf, muss diese Selbstbeurteilung an sie ausgehändigt werden.

Auf die "unzumutbare Belastung" nicht berufen lässt sich "wenn Wirtschaftsakteure zu Zwecken der Verbesserung der Barrierefreiheit nichteigene — öffentliche oder private — Mittel erhalten" (Artikel 14, 6).

Unternehmen, die Dienstleistungen erbringen, müssen die Selbstbeurteilung erneut ausführen…

  • …wenn die Überwachungsstelle sie dazu auffordert.
  • …wenn die angebotene Dienstleistung verändert wird.
  • …nach mindestens fünf Jahren.

Das Konzept der "unzumutbaren Belastung" bedeutet aber nicht, dass die Richtlinie große Lücken in ihrer Anwendbarkeit aufweist. Denn: von Kleinstunternehmen, "die mit Produkten befasst sind" (Artikel 14, 4) abgesehen, ist sieht die Richtlinie eine schriftliche Rechtfertigung dafür vor, wenn man sich und sein Unternehmen als durch "Unzumutbarkeit" belastet und von der Richtline ausgenommen sind.

Es bleiben viele Unternehmen in der Europäischen Union übrig, die vom EAA betroffen sein werden. Denn nur Kleinstunternehmen, d.h. Unternehmen, die weniger als 10 Personen beschäftigen und deren Jahresumsatz und/oder Jahresbilanzsumme 2 Millionen Euro nicht übersteigt, können sich überhaupt auf die "Befreiung von unzumutbarer Belastung" berufen.

Aktuelle Unklarheiten

Um es nochmal zu wiederholen: Nicht die EU-Richtlinie ist letztlich entscheidend oder rechtskräftig, sondern das jeweilige nationale Umsetzungsgesetz. Das bedeutet, dass die Richtlinie nicht alle Eventualitäten abdecken soll. Vielmehr hat sie die Aufgabe, die ordnungspolitische Richtung vorzugeben, die die nationalen Gesetze einschlagen sollen. Dennoch soll hier ein Auszug aus den noch offenen Fragen gegeben werden:

  • Die Mitgliedstaaten entwickeln, implementieren und aktualisieren zukünftig geeignete Verfahren, um die Anforderungen an die Zugänglichkeit von Diensten zu überwachen, Beschwerden nachzugehen und Korrekturmaßnahmen zu kontrollieren. Aber wie wird das konkret aussehen? Welche Organisationen werden im Einzelnen benannt?
  • Da die Mitgliedstaaten die Öffentlichkeit über die Existenz eines von der Richtlinie abgeleiteten Gesetzes informieren müssen - damit die Bürger*innen ihre Rechte kennen -, aber in welchen Formen wird dies geschehen?
  • Zu Websites und Apps: Bislang verweist die Richtlinie auf keine konkreten technischen Normen (wie z.B. die Richtlinie 2016/2102). Wird dies so bleiben? Wenn ja, wie sieht der regulatorische Erwartungshorizont aus, an dem sich die Unternehmen dann orientieren müssen?
  • Zu Websites und Apps: Bislang verweist die Richtlinie auf keine konkreten technischen Normen (wie z.B. die Richtlinie 2016/2102). Wird dies so bleiben? Wenn ja, wie sieht der regulatorische Erwartungshorizont aus, an dem sich die Unternehmen dann orientieren müssen?

Zeitplan

  • Die Europäische Union hat die Richtlinie 2019/882 formell verabschiedet
  • Die Mitgliedsstaaten der EU müssen die Richtlinie 2019/882 in die jeweiliges nationales Recht überführt haben
  • Spätestens bis zu diesem Datum müssen die nationalen Gesetze Anwendung finden.

Weitere Beratung zum Thema

Portrait Marcus Herrmann

Hinter dieser Informationsseite steht Marcus Herrmann, freiberuflicher Webentwickler, Berater und zertifizierter Spezialist für Barrierefreiheit von Websites und Web-Apps (IAAP Web Accessibility Specialist). In der Vergangenheit durfte ich unter anderem den Berliner Verein Sozialhelden, das Deutsche Historische Museum, die USU GmbH und die ownCloud GmbH bei der Barrierefreiheit ihrer Projekte unterstützen.

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